ZUR AUSSTELLUNG VON ANJA HANTELMANN

07.11.2008

Meine Sparkasse ist ein Traum aus Licht und Glas. Die Schließfächer sind nicht länger im Keller untergebracht, sondern befinden sich in einem transparenten Turm, der die Stadt überragt. Der Lift, der einen dorthin bringt, scheint sich kaum zu bewegen. Man benötigt weder Ausweis noch Schlüssel, sondern erhält Zulass, indem ein Gerät in Kopfhöhe die biometrischen Daten abgleicht und eine Irisdiagnose vornimmt. Da meine Augen zu tief in den Höhlen liegen, bin ich von dieser freiwilligen Serviceleistung meines Kreditinstituts allerdings ausgeschlossen. Ich besitze eine Schuldverschreibung und die Möglichkeit am Online-Banking teilzunehmen. Obwohl ich diese Möglichkeit kaum nutze, werden in den letzten Wochen regelmäßig Beträge von meinem Konto abgebucht und einem mir unbekannten Empfänger gutgeschrieben. Dabei hat sich mein Lebenswandel nicht geändert. Ich bin weiterhin nur Mitglied beim Arbeiter Samariterbund, weil ich seinerzeit erleichtert war, dass kein GEZ-Kontrolleur vor meiner Tür stand, sondern nur jemand, der Geld für ein Kinderkrebsmobil wollte. Auch die Meldung, der Arbeiter Samariterbund habe im großen Stil Mitgliederadressen verkauft, beunruhigt mich nicht, denn darauf führe ich allein die attraktiven Angebote für Reisen in die Türkei und an die Ägäis zurück. Natürlich wende ich mich mit meinem Problem zuerst an die Telefonberatung, doch die Auflistung der sympathisch zusammengesampelten Frauenstimme bietet keinen Nummerncode für Fremdabbuchungen an, weshalb ich beschließe, die Filiale persönlich aufzusuchen. Ich halte es nämlich auch für recht unwahrscheinlich, dass der von meinem Virenprogramm auf meinem Rechner festgestellte, jedoch nicht in Quarantäne zu verschiebende oder gar zu löschende Trojaner mit dem Namen Silentbanker für diese Abbuchungen verantwortlich ist, denn warum sollte jemand mit kriminellen Absichten, diese in der Namensgebung seiner Malware so eindeutig offen legen?

Die Sonne scheint. Ein Kran hievt einen Fensterputzer in schwindelnde Höhen. Vor dem Eingang meiner Sparkasse steht eine Hüpfburg neben einer großen lila Kuh aus Pappe. Die automatische Drehtür portioniert die Wartenden. Die große Halle gleicht einem Schwimmbad mit kleinen Erholungsinseln, genannt Servicepoints. Am Informationsstand steht ein höchstens neunzehnjähriger Auszubildender. Sein Gesicht ist ein länglich zusammengepresstes Oval mit einem Büschel schwarz hochgegelter Haare an der oberen Spitze. Seine Haut erstrahlt in makellosem Kabukiweiß. Auf seinem Namensschild kann ich lesen, dass er Bill Kaulitz heißt und aus Magdeburg stammt. Er sagt: „Halt die Sekunde fest, zeig deine Hände, schrei, springt nicht, rette mich“ und verweist mich an einen der hinteren Schalter. Dort steht in einem kleidsamen schwarzen Hosenanzug Annette Gebtaler. Erst denke ich, es ist ein ausgefallener Milchzahn, der auf ihrer Zunge funkelt, dann meine ich ein abgelutschtes Ticktack zu erkennen schließlich die Spiegelung zweier Zahnreihen, wie sie bei manchen Fischarten vorkommen. Ich drehe mich nach Bill Kaulitz um, dessen Mund sich stumm öffnet und schließt, obwohl kein Kunde in seiner Nähe ist. Vielleicht atmet er nur. Seine Krawatte schwimmt vor ihm im blauen Licht. Das einzige Wort, das mir einfällt ist „Freistellungsauftrag“, obwohl das mit meinem eigentlichen Anliegen nichts zu tun hat. Vielleicht liegt es an der Geldferne der Umgebung, an dem klaren Wasser, in dem alle hier treiben.

Den Kopf ruhig, rieselt es mir den Nacken hinunter. Kalt. Angenehm kalt. Beruhigend kalt. Wie die Hand eines Arbeiter-Samariters, der meinen Kopf nach einem unglücklichen Unfall anhebt. Ich halte die Augen besser geschlossen. Es erscheint Wasser in Mundhöhe. Himmelfetzen schwappen über mich. Ein Rütteln geht durch die Glaswände. Die Angestellten strudeln in der einsetzenden Abenddämmerung nach draußen. Ich sitze auf einem Pferd, das leicht schwankt. Ganz leicht. Der Himmel rast in dunkelrot und blau vorbei. Ich kann nicht reiten. Und das Pferd will sich nicht von allein bewegen. Ich saß noch nie auf einem Pferd. Doch einmal als Kind. Und da hielt das Pferd an einem Bach, um zu trinken. Danach wollte es nicht mehr weiter. Die anderen waren schon hinter dem Hügel verschwunden, nur ich stand neben dem Pferd im Bach und zog hilflos an den Zügeln. Die kalte Hand des Arbeiter-Samariters drückt mich sanft aber bestimmt nach oben und weg aus der unmittelbaren Gefahrenzone in eine Seitenstraße. Ich wage die Augen einen Spalt zu öffnen, sehe Kopfsteinpflaster und Flachbungalows zwischen verlassenen Altbauten, teilweise vernagelt, teilweise mit offen schlagenden Türen. Zugluft überall, keine Namensschilder. Sollte ich ausgerechnet hier diejenigen finden, die von meinem Konto Geld abbuchen?

„Ich kenn die doch noch nicht mal“, schreie ich vor mich hin und trete gegen einen Einkaufswagen ohne Räder. Aber selbst diesen Ausbruch muss ich spielen, weil ich mir das gerechte Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht abnehme. Schließlich komme ich auf die hilflose Idee, die neunstellige Ziffernfolge des Trojaners Silentbanker auf meinem Handy zu wählen. Vielleicht höre ich in einem der Hinterhöfe mein eigenes Klingeln. Ich setze mich auf den Bordstein und denke, heißt das nicht Randstein, oder noch eher Rinnstein und sitzt man nicht im Rinnstein. Eine Pfütze, in der meine Füße stehen, dicke Wolken spiegeln sich darin, mein Arm, der meinen Kopf stützt, irgendwo habe ich mir die Jacke aufgerissen, das Hemd, das weiße Hemd, das gute Hemd, das ich extra angezogen habe, wie bei Behördengängen üblich, hängt etwas raus, das Wasser schwappt über das Lederimitat der Schuhspitzen, und natürlich höre ich nirgendwo ein Klingeln in einem der Hinterhöfe.

Jetzt kommt eine Frau die Straße hoch. Jetzt wird es nochmal dunkler, weil sich Wolken vor die funzlige Sonne schieben, und ein Fensterladen knarrt und schlägt. Wie in einem gestellten Foto bleibt die Frau stehen und schaut nach oben in den Himmel, und vielleicht weil ich jetzt Publikum habe, weil das Publikum nochmal das hervorruft, was ich für mein Gefühl halte, also für das, was ich meine empfinden zu müssen, wenn man irgendwelchen Schweinen aufgesessen ist, schreie ich irgendwas Unzusammenhängendes über Schweine und Aufsitzen während ich aufstehe und weitergehe.

Mit einem Mal stehen wie abgesprochen hinter der nächsten Ecke Leute vor einer offenen Garage und halten Kleidungsstücke und alte Toaster in den Händen. Ich zwänge mich zwischen sie, weil ich auf dem Boden einen Stapel Bücher entdeckt habe. Man schenkt sich gegenseitig Glühwein aus. Jedes einzelne dieser Bücher kenne ich. Sogar die eingeknickten Ecken und das lose Zellophan des Umschlags. Also führt irgendwer ein Leben, das genauso aussieht wie meins, nur dass wir nichts voneinander wissen. Es gibt eben nur eine beschränkte Auswahl an Leben, und deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass noch einer, mindestens einer, so ein Leben führt wie meins, natürlich nicht ganz zeitgenau, denn in diesem Fall etwa, ist er mir voraus, stößt die Bücher schon ab, an denen ich noch hänge. Vielleicht weil er muss, vielleicht weil ihn diese Schweine schon völlig ausgeraubt haben, nicht nur vier Abbuchungen wie bislang bei mir. Ich verstelle einer Frau die Sicht auf einen Stapel Töpfe. Ich könnte mich jetzt wie sonst entschuldigen, stattdessen aber auch gegen den Stapel treten, mich noch breiter machen oder anfangen zu weinen. Was nützen einem Gefühle, wenn man sie immer erst hinterher fühlt?, denke ich, aber auch dieses Gefühl kommt verspätet. Vielleicht sind Gefühle nur Erinnerungen. So wie ich jetzt an den dritten im Bunde denke, nach Bill Kaulitz und Annette Gebtaler, zu dem ich im Sparkassenaquarium verwiesen wurde. Er schaute mich nicht an, fixierte stattdessen seinen Bildschirm, tippte flott auf der Tastatur und formulierte mir gegenüber den Begriff Haftungsausschluss, während er gleichzeitig etwas auf einem Block notierte und den Drucker einen Ausdruck machen ließ.

„Ich unterschreibe gar nichts“, sagte ich etwas kontextlos, doch weil mir dieser Satz bekannt vorkam, wahrscheinlich aus dem Fernsehen, flößte er mir für einen Moment etwas Ruhe ein. Genauso einen Satz bräuchte ich jetzt auch für die Frau, der ich den Blick auf die Töpfe verstelle, aber solche Situationen kommen im Vergleich zu der Situation, etwas unterschreiben zu sollen, zu selten vor als dass man dafür einen eigenen Satz zur Verfügung hätte. Etwas unterschreiben hingegen ist eine kulturelle Errungenschaft, ohne die einem Betrüger immer noch nachts mit der Keule auflauern müssten. Jetzt ist man nachts relativ sicher. Oder man ist sicher, dass es Verrückte sind, die einem auflauern. Nicht dass Verrückte keinen Schaden anrichten könnten. Im Gegenteil, sie stechen einen einfach ab, aber das sind zwei Metiers, die nichts miteinander zu tun haben und nur in den Zeitungen vermischt werden, wenn man sich dort wundert, dass jemand wegen 15 Euro überfallen wird, wo man ihm doch mit einer Unterschrift leicht das Hundertfache hätte abluchsen können. Abluchsen, das Wort hatte der Dritte im Sparkassen-Bunde mir gegenüber gebraucht, oder war es der Arbeiter-Samariter?, als sei alles eben mehr oder minder ein Spiel, das nur ich ernst nehme, weil ich an meinen paar lächerlichen Kröten hänge. Hinter ihm spiegelte sich etwas Sonne in dem Bürofenster. In solchen Situationen versagen sowohl mein antrainiertes Gefühlsrepertoire als auch das, was gemeinhin aus dem Dinosaurierhirnstamm unkontrollierte Signale sendet. Es übernehmen jüngere Hirnschichten das Regiment, Höflichkeitsregularien: Fisch nie mit Messer. Auch das hat schon manchem das Leben gerettet.

Draußen fliegen die Passanten um mich wie im Schlussverkauf. Sie umklammern mit ihren Händen Tschibo-Luftballons und sind fröhlich, weil sie für ein Wochenende Auszeit haben. Doch wenn jemand Auszeit hat, dann ist ein anderer schon dabei, dessen Konto leerzuräumen. Das ist der Lauf der Welt. Es gibt Luft und Wasser und nicht mehr. Das dazwischen, weil so fragil, nennt man Seele, obwohl es natürlich eine Fiktion ist. Aber nur in Luft und Wasser, das ginge nicht. Man würde weggeweht und abgetrieben und von einem Strudel in den nächsten gerissen. Ein hohes Fiepen wäre dauernd da, und am Ende wäre es sinnlos, weil es sich nur im Kreis gedreht hätte, und nicht dorthin, wo Ziel auf einem alten Laken steht. Das Laken rollen sie mal über einer alten Garage, dann wieder über einer Sparkasse zur Orientierung auf. Ich weiß nicht, was zuerst da war, das Laken mit der Aufschrift Ziel oder die Unterschrift oder die Fiktion von der Seele oder diese dünnen Planken zwischen Wasser und Luft, die man in anderen Völkern wiederum Erde nennt. Die Erde sei die Mutter und aus ihr kommen wir. Aus Planken? Na ja, doch, da steckt was dahinter.

Ich kaufe also nicht meine eigenen Bücher in der Garage, sondern gehe stattdessen durch die mittlerweile stockdunkle Straße Richtung Fluss. Die Straße hört einfach am Fluss auf. Früher stand hier mal ein malerisches Hotel, in dem Frisch-Verliebte abstiegen, um aus dem Fenster auf Himmel und Wasser zu schauen und sich gegenseitig die eigenen Spiegelungen zu zeigen. Jetzt ist da irgendwas Halb-abgerissenes und Halb-neugebautes hinter Drahtzaun. Dann noch ein Geländer, an dem ich stehe. Das Wasser ist nur zu hören, weil jetzt so schwarz wie der Himmel. Mein Handy läutet. Vielleicht versucht mich jemand zu orten. Ein Lichtschein auf einer Plastiktüte, die sich in einer morschen Planke verharkt. Wahrscheinlich ein tieferes Symbol, das nur ich nicht verstehe.